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Seit einiger Zeit hat sich eine Piratengruppe im Mattequartier häuslich niedergelassen. Sie kennen Sie nicht? Höchste Zeit, dass sich dies ändert!
Wer dem Piratennest auf die Spur kommen will, muss die Aarstrasse entlang spazieren. Zwischen Aare und Badgasse befindet sich in einem langgezogenen Gebäude die städtische Kindertagesstätte Matte, eine der ältesten von Bern. Seit 65 Jahren werden hier Kinder vom Baby- bis ins Kindergartenalter betreut.
Vielleicht hat sich schon früher der eine Pirat oder die andere Piratin dort aufgehalten, ganz offiziell niedergelassen aber sind die Seeräuber seit 2009: Um die ungebrochene Nachfrage an Kita-Plätzen zu decken, wurde in der Matte Kita eine neue Kindergruppe eröffnet. Dafür verantwortlich zeichneten Sabina Reize und Flavio Baltermia.
«Wir haben uns zuerst einen Nachmittag lang im Ligu Lehm kennengelernt, bevor wir definitiv ja sagten zu dieser Aufgabe. Wir merkten, dass wir dieselben Vorstellungen von der Arbeit mit Kindern haben und dass die Chemie stimmt.», erzählt Sabina über diese Anfänge. Die beiden begannen buchstäblich mit leeren Räumen, richteten ein, schrieben Konzepte, organisierten und bauten so nach und nach eine Kitagruppe auf. Fast ein Jahr lang hatte diese keinen richtigen Namen; die Kinder hatten es längst satt, einfach «die neue Gruppe» zu sein. Wasserfurz und ähnliche Kuriositäten wurden nur zum Spass in Betracht gezogen. Rasch kamen Kapitänsfrau und Kapitän mit ihrer Mannschaft überein, offen dazu zu stehen, was sie sind: Aarepiraten! Kurzerhand wurde beschlossen, dass sich auch alle andern Kita-Gruppen einen neuen Namen geben dürfen. An einem grossen Fest wurden die Gruppen Aarepiraten, Wasserwäue, Zouberwasser, Glitzerwasser und Wasserschildkrötli offiziell präsentiert. «Da waren wir richtig angekommen, und alle stolz, Aarepiraten und -piratinnen zu sein», stellt Sabina fest.
Und dennoch: Kapitän Flavio rief das Abenteuer, er wollte zu neuen Ufern aufbrechen und verliess das Aarepirate-Schiff. Zum Abschied schenkte er seinen kleinen Piraten und Piratinnen ein Buch, das die Geschichte von Aarepiraten erzählt, die aus purer Not, weil sie Hunger leiden, fast den Ligu Lehm überfallen, dann aber einen viel besseren Weg finden, um an Geld zu kommen.
Für die Aarepiraten-Gruppe fand sich mit Camille Rechsteiner zum Glück eine würdige Nachfolgerin. Weil sie schon ihre Lehre in der Matte Kita gemacht hatte, war sie rasch voll einsatzbereit. Nun gibt es zwei Kapitänsfrauen, die sich die Verantwortung teilen. «Wir ergänzen uns sehr gut», meint Camille. Wichtige Basis für die gute Zusammenarbeit ist beiden, dass sie ähnliche Vorstellungen davon haben, wie man mit Kindern umgehen soll.
Und was verbindet die Aaarepiraten mit dem Matte-Quartier?
Ein grosser Teil der Mannschaft wohne in der Matte, meinen die Kapitäninnen. «Es ist lustig, wenn die Kinder bei unseren Spaziergängen durch die Matte, etwa auf dem Weg zum Längmuurspili, jeweils sagen, da wohne ich, dort wohnt dieses und jenes Kind», erzählt Camille. Und Sabina ergänzt: «Man merkt, dass sich die Kinder mit dem Quartier identifizieren.»
Das Aaarepirate-Schiff segelt unter dem Schutz von Reto Wynistorf, dem Betriebsleiter der Kita und damit sozusagen oberster Pirat. Was verbindet in seinen Augen die Matte Kita mit der Matte?
«Wir gehören seit jeher zu diesem einzigartigen Quartier!» betont Reto. Viele Kinder aus der Matte und den angrenzenden Gebieten in der Altstadt, aber auch – dank der «Superlage» des Quartiers – aus Marzili und Kirchenfeld würden in der Kita Matte betreut. Reto erwähnt weiter, dass die Kita mit dem Matte Kindergarten an der Fricktreppe zusammenarbeitet. Nicht zuletzt verbindend sind für ihn auch die Menschen: «Wir kennen viele nette Leute aus der Matte.»
Die Aarepiraten im Buch haben nichts zu essen und leiden mit knurrendem Magen.
Das passiert den echten Aaarepiraten und ihren Gschpändli auf den andern Gruppen natürlich nicht. In der Kita Matte kocht Vreni Rytz, die nach Ansicht meiner Kinder beste Köchin der Welt. Vreni, seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dabei, hat schon Generationen von Kindern bekocht. Seit sie auch für die Tagesschule Matte kocht, wird sie dabei von Marlies Dobi unterstützt, denn so viele hungrige Mäuler alleine stopfen kann nicht einmal die beste Köchin der Welt.
«Wenn wir mit der Gruppe einen Ausflug machen, sagen die Kinder immer ganz stolz, ‚wir sind die Aaarepiraten!‘. Manchmal werden wir da komisch angeschaut – aber es stimmt ja!», lacht Sabina. Dass sie nun auch ein eigenes Buch haben, darauf sind die Aarepiraten alle sehr stolz. «Ich war neulich mit Kindern in der Bibliothek, dort war das Aaarepiratebuch, ein Bub ging ganz stolz hin und sagte, das ist unser Buch, hier steht mein Name drin.», erzählt Camille.
Und wohin steuern die Kapitäninnen das Aarepiratenschiff? Auf der Gruppe sind neu zwei Lernende mit an Bord: Agnes und Melanie, künftige Kapitäninnen in Ausbildung. Das stellt hohe Ansprüche, denen die beiden Kapitänsfrauen gerne begegnen – so wie sie auch viele neue Ideen haben, die sie umsetzen wollen. Was ihnen weniger Freude macht: es fällt zunehmend mehr Papierkram an, der viel Zeit wegfrisst. «Das Kind steht im Zentrum, die optimale Betreuung der Kinder darf nicht darunter leiden.», darin sind sich beide einig. Also kein unnötiges Schiffsplanken-Fegen, denn: «Lieber glänzende Kinderaugen als glänzende Böden!» heisst das Motto auf dem Aaarepiraten-Schiff.
Wie sieht das der oberste Pirat Reto? Der Betriebsleiter berichtet, dass viele Veränderungen anstehen. Das Matte-Kitateam hat in den letzten zwei Jahren eine Weiterbildung zur sogenannten «Bildungskita» absolviert und neu mit der Umsetzung begonnen. Bildungskita heisst nicht, dass unsere kleinen Piraten und Piratinnen schon die Schulbank drücken sollen. Was Reto beschreibt, tönt verlockend: «Seit neustem können die Kinder aus verschiedenen sogenannten Ateliers auswählen. Es gibt die Ateliers Bewegung und Musik, Malen, Werken, Natur Wald Garten und Rollenspiele. Das Angebot wechselt nachmittäglich.» Was geboten wird, kommt ganz offensichtlich an: «Alle haben grossen Spass und die Kinder sind enttäuscht, wenn sie nicht ins Atelier dürfen, denn es hat noch nicht immer für alle einen Platz.», so Reto. Als weitere grosse Veränderung erwähnt er die bevorstehende Einführung der Betreuungsgutscheine, also den Systemwechsel weg von der Subventionierung der Kita-Plätze hin zur direkten finanziellen Unterstützung von Eltern. Mögen mit diesen Veränderungen auch mal Stromschnellen und Untiefen zu bewältigen sein, etwas ändert sich nicht: «Bei uns bleibt das Kind im Zentrum.», verspricht der oberste Pirat.
Doch zurück zu den Aarepiraten im Buch. Sie gründen eine Band und üben und üben. Alle übernehmen eine Aufgabe, die zu ihnen passt und finden ihren Platz – ganz genau so, wie die Kinder in ihrer Kita-Gruppe. Der Auftritt der Aarepiraten-Band auf dem Münsterplatz ist ein voller Erfolg. Kein Wunder: Wer ihr Lied einmal gehört hat, dem geht es nicht mehr aus dem Kopf: «Mir si d’Aarepirate, die kuulschti Bänd vo Bärn, we mir üsi Musig starte, tanze aui immer gärn…» Ganz in diesem Sinn bleibt nur noch anzufügen: D’Matte-Kita isch di kuulschti Kita vo Bärn!
Marianne Schär Moser Mutter von Aarepirat und Vollmatrose Daniel und vom ausgemusterten Aarepirat Michael, der neu die Tagesschule Matte besucht und froh ist, dass auch dort das Essen von Vreni gekocht wird.
«Rüeblisalat wott i nid» –
«Dä isch aber vom Vreni.» – «Aha», und schon wird der ganze Teller leer gegessen.
Das Bilderbuch «Aarepiraten» mit Hörbuch und Musik von Flavio Baltermia (www.aarepiraten.ch) ist 2012 im Verlag Einfach Lesen (www.einfachlesen.ch) erschienen und im Buchladen an der Badgasse und im Buchhandel erhältlich.