«So geht es nicht weiter», rief meine Frau entrüstet aus. Ich schreckte aus meinem Buch hoch. «Es ist wirklich nicht zum Zusehen! Den ganzen schönen Sonntag hindurch Bücher lesen, meinetwegen. Aber dass du gleich in die Bücher hinein kriechen musst! Du siehst aus wie ein Trüffelschwein bei der Arbeit, so wie du die Wörter aus den Büchern klaubst! Vertraue mir, Abhilfe ist möglich, Brillen sind bereits erfunden!»

Ich muss zugeben, dass ich an einem wunden Punkt getroffen war. Gesehen zu werden fiel mir leichter als zu sehen. Das gehört zum Reifungsprozess, der bei Männern nie aufhört, die Natur halt. Männer in meinem Alter werden nicht mehr unbedingt schöner dafür aber ständig reifer und interessanter. Wenigsten steht das in den Illustrierten, die überall herumliegen und die Recht haben, denn sonst würde sie ja niemand kaufen. Aber wenn das sehen mehr Mühe macht, so liegt das an der Wirtschafskrise. Logisch: alle müssen sparen, deshalb sparen die Druckereien am Papier und verwenden immer kleinere Buchstaben.

BrilleBrille? Was soll ich mit einer Brille? Ich muss mich doch nicht künstlich auf intellektuell machen, das habe ich nicht nötig. Nicht alles sehen regt zudem die Phantasie an: unleserliches will erraten werden, neue Zusammenhänge entstehen und wenn die Buchstaben vor den Augen tanzen ist es wie Trickfilm. Und erst die Überraschung an der Ladenkasse im Supermarkt, wenn ich endlich vom grossen, hellen Display ablesen kann, wie teuer ich diesmal eingekauft habe, das ist spannender als der Börsencrash im Wirtschaftsteil.
Doch im Grunde genommen hat meine Frau ja Recht, auch wenn ich das nie zugeben würde. Ich brauche tatsächlich eine Brille. Denn es ist Sommer geworden und eine klare Sicht ist wichtig für den männlichen Horizont. Das weiss ich spätestens seit sich herausstellte, dass es sich bei der jungen Dame, die ich neulich freundlich anlächelte, weil sie im kurzen Nachthemd ihren Briefkasten leerte, um unsere verwirrte, neunzigjährige Nachbarin handelte.

So konnte es nicht weitergehen und noch am selben Tag, als ich die peinliche Verwechslung wahrnahm, rief ich beim Augenarzt an: «Ein Notfall! Herr Doktor, «rief ich in den Hörer, «dringend! bitte einen Termin, noch heute!»
«Kein Grund zur Beunruhigung», meinte der Augenarzt ein paar Stunden später, in kühler, weisser Sachlichkeit, nachdem ich mich kreuz und quer durch seinen Buchstaben- und Zahlensalat gequält hatte. «Kurzsichtigkeit ist nicht lebensgefährlich, solange Sie nicht bei Rotlicht die Strasse überqueren. Eine gute Brille wird es richten.»

Das Brillenrezept steckte ich erst einmal in die Brieftasche. «Vielleicht wird es ja von selber besser, immerhin war ich ja beim Augenarzt», sagte ich zu meiner vorwurfsvoll schweigenden Gattin. Doch Eitelkeit und Kurzsichtigkeit lagen einander tagelang in den Haaren. Zwischendurch erlaubte ich mir - völlig unverbindlich und ohne Kaufabsicht - einen verstohlenen Blick in die Schaufensterauslagen der Optikergeschäfte. Markige Clooney-Klone lächelten mir von Plakaten entgegen, Blick und Brille verhiessen Kompetenz, Durchsetzungsvermögen, Sensibilität und Bescheidenheit in einem, richtige Männer, genau meine Linie. Lustig, die Schaufenster waren nach Männlein und Weiblein getrennt, wie die Garderobe in der Badi. In der Frauenabteilung rankten sich biegsame Schönheiten auf Plakaten um eben diese maskulinen Brillenträger, ich sah mehr Zähne auf einen Bild als weisse Tasten auf einem Klavier. Lustgewinn dank Brille lag in der Luft.

«Morgen, liebe Frau und Weide meiner müden Augen, morgen gehe ich hin und tue es!», deklamierte ich. «Ich werde meine Augen mit kompetent maskulinen Gläsern verwöhnen!»
«Endlich, ein Wunder», seufzte der verschwommene Schatten, der behauptete, mit mir verheiratet zu sein, die Gestalt, die ich in wenigen Tagen mit der ganzen Klarheit als meine Lebensgefährtin erkennen würde, «wer hat denn bloss diesen wundersamen Gesinnungswandel zustande gebracht?»
Über schneeweiche Teppiche, durch goldene Tore geleitete mich die empfangende Brillenberaterin, sie wies mir huldvoll einen Platz an ihrem Tisch. Während sie die bereits etwas zerknitterte Brillenempfehlung des Augenarztes mit spitzen Fingern anfasste und glattstrich, als handle es sich um das Asylgesuch zum Eintritt in das Land der Sehenden, schaute ich mich etwas um. Viel erkennen konnte ich nicht, die optische Würdenträgerin sah ähnlich aus wie meine Gemahlin, trug aber eine andere Farbmischung.
«Sie haben mir da eine interessante Korrektur mitgebracht, wozu benötigen Sie eine Brille?»
Nun, das war einfach, spontan brachte ich mich ein: «Zum hindurchgucken?»
«Oh fein, da haben wir ja schon ein gemeinsames Ziel! Wir führen Brillen zum Arbeiten, für an den Pool, zum Tauchen, zum Klettern ...»
«Lesen, ich möchte lesen mit der Brille», unterbrach ich rasch, und hingucken, äh beim Fernsehen natürlich.»
Ein paar Tage später war es soweit. Wieder sass ich meiner Brillenkönigin gegenüber, verheissungsvoll zog sie meine funkelnd neue Brille aus einem Umschlag und setze sie mir mit einem eleganten Schwung auf die Nase. Ich erblickte zum ersten Mal das Gesicht der Göttin, die mir neue Sehschärfe schenkte. Ah, so trugen die jungen Frauen die Haare heutzutage; die Brillenfee lächelte betörend.
«So, jetzt müssen wir nur noch die Brille anpassen, dann sind Sie erlöst! Schauen sie bitte geradeaus.»
Doch es gelang mir nicht. Ich konnte nicht geradeaus sehen! Aus weiter Ferne vernahm ich eine Stimme, doch vor lauter sehen verging mir das hören. Denn was ich erblickte liess mich die Augen niederschlagen, nicht aus Schamhaftigkeit, im Gegenteil. Mein frisch geschärfter Blick fiel in den Abgrund eines Dekolletés, das man mit dem besten Willen nicht mit ‚Ausschnitt‘ übersetzten könnte. Das war Breitleinwand und 3D und überhaupt grosses Kino, alles auf einmal.

«Bitte, seien sie so gut und schauen sie geradeaus, sonst kriegen wir das nie gerade hin. Ich gab mir Mühe, ich schwöre! Doch wie Stahlkugeln kullerten meinen Augen immer wieder in diesen Grand Canyon an sommerlicher Offenherzigkeit.
Ich riss mich zusammen, erinnerte mich an ein paar verblasste Bildungsfetzten, dachte an Johann Wolfgang von Goethe, der sich fragte «Was ist das Schwerste von allem? Was dir am leichtesten scheint: Mit den Augen sehen, was vor dir liegt.» Wohin der Herr Geheimrat wohl geschaut haben mag, grübelte ich, mir fiel das überhaupt nicht schwer.
Wenn Sie nächstens Männer mit schief sitzenden Brillen in Berns Gassen begegnen, dann wissen Sie jetzt, wo diese Herren ihre Sehhilfen kaufen: genau, bei meiner süssen Optikerin.
Übrigens, was ich beinahe vergessen hätte: ich besitze jetzt drei Brillen! Schade ist nur, dass das meiner Frau nun auch wieder nicht recht ist. Dabei war ich doch beim Augenarzt.

Peter Maibach
www.petermaibach.ch