Peter MaibachEs nutzt nichts, in den alten Telefonbüchern zu blättern. Den Herrn Gurk aus dieser Geschichte gibt es nicht, und wenn es ihn geben sollte, wäre es eine Verwechslung. Die Geschichte handelt in einem alten, dunklen Bürogebäude mit hohen Räumen und verwinkelten Korridoren, weit weg, in einer anderen Stadt, vielleicht sogar in einem anderen Land! Aber wer weiss das schon so genau bei Geschichten, die sich um Weihnachten drehen?

Ich hatte Herrn Gurk per Zufall kennengelernt. Eigentlich war es eher Not als Zufall. Herr Gurk arbeitete am Auskunftsschalter. Ich war neu in der Firma und noch grün, aber voller Tatendrang. Verirrt im dichten Dschungel von Reglementen und galoppierenden Vorschriften, bedroht von Terminen und gewürgt von Fristen fiel mein Blick eines müden Montags auf den unscheinbaren Schalter gleich beim Eingang in der grossen Halle. Herr Gurk entpuppte sich als eine Goldmine des Wissens. Kaum etwas in der Firma entging seiner Aufmerksamkeit. Er wusste einfach alles und half mir bereitwillig auf die Sprünge. Von nun an war ich oft als Hilfesuchender zu Gast in Gurks kleinem Kabinett hinter dem Auskunftsschalter. Ich wartete geduldig auf dem abgeschabten Stuhl in der Ecke, vor neugierigen Blicken abgeschirmt durch einen riesigen Aktenschrank und studierte die Winterlandschaften im bunten Wandkalender, während Herr Gurk am Schalter Red und Antwort stand.

Herr Gurk schien bescheiden zu leben. Ich sah ihn immer in einer seiner zwei Jacken; eine braune mit grossen Karos in der kälteren Jahreszeit und eine hellgraue im Sommer. Er trug mit Vorliebe gestreifte Krawatten zu karierten Hemden. Hosen und Schuhe schienen immer dieselben zu sein. Sie passten weder zur Winter- noch zur Sommerjacke. Die Hose sah aus wie eine ausgeleierte Ziehharmonika und auch die Schuhe hatten ihre beste Zeiten weit hinter sich gelassen. «Am Schalter sieht es keiner,» bemerkte einmal Herr Gurk in seiner zurückhaltenden Art, als er meinen nachdenklichen Blick bemerkte.
Ein wenig gebeugt stand Herr Gurk hinter seinem Schalter. Mit freundlicher, ruhiger Stimmer gab er Auskunft auf alle möglichen und unmöglichen Fragen, die Besucher auch nur stellen konnten. Die langsame Sprechweise nervte manchen. Aber Herrn Gurk liess sich nicht hetzen. Jemand wollte eine Auskunft, und die erhielt er auch, egal wie ungeduldig dieser vor dem Schalter herum zappelte.

Es war an diesen seltsamen Tagen kurz vor Weihnachten. Ich suchte ein vertracktes Formular, das es offenbar unbedingt zum Jahresabschluss brauchte. Allerdings, wollte niemand je etwas davon gehört haben. «Fragen Sie doch den Gurk – der weiss doch alles!» riet man mir. Gute Idee! Gerne schlich ich mich aus dem hektischen Büro in die Ruhe hinter Gurks Auskunftsschalter.
«Setzen Sie sich, ich komme gleich!» flüsterte er mir über die Schulter zu, als ich in sein Kabinett schlüpfte.
Vor dem Schalter stand ein kleines Mädchen, es reichte kaum bis hinauf zum Schalter. Beim Eintreten erhaschte ich einen Blick auf einen hellen Lockenkopf. Gurk lehnte sich über die Schaltertheke. Mit einer hohen, dünnen Stimme piepste das Mädchen: «Herr Auskunftsbeamter, wissen Sie wo die Engel sind?»
«Das ist eine gute Frage», begann Gurk. So begann er immer. «Das ist wirklich eine sehr gute Frage, meine junge Dame.»

Dann hörte ich, wie er einen Stapel Formulare über den Daumen fächerte, gerade klopfte und wieder hinlegte. Das war bei Gurk das Signal höchster Anspannung. Offenbar hatte er die Kleine schon länger am Hals. Nochmals die Formulare durchfächern, gerade klopfen, hinlegen. «Im Kerzengeschäft gibt es Engel,» grübelte Gurk, «in allen bunten Farben, die sind aber fast zu schade zum abbrennen und teuer. Oder im Spielwarengeschäft, da habe ich welche mit einer Musikuhr gesehen, die spielen wunderschön.» Gurk schien zu lächeln. «Geh doch ins Kaufhaus hinüber in die Spielwarenabteilung, dort wirst du genug Engel sehen!»
Doch das Mädchen schien noch nicht zufrieden. «Nein, die meine ich nicht, die sind bloss langweilige Dinger zum kaufen. Ich meine, Herr Auskunftsbeamter, richtige Engel!» trotzte die Kleine.
Gurk dachte angespannt nach, stapelte erneut seine Formulare.
Seiner jungen Kundin ging das entschieden zu langsam: «Herr Auskunftsbeamter, glauben Sie überhaupt an Engel?»
Ich hängte den Kalender zurück und spähte vorsichtig aus meinem Versteck. Ich sah aber nur Herrn Gurk. Sein angespannter Rücken verdeckte die Sicht auf das Mädchen. Ich war neugierig, wie Gurk sich aus der Affäre ziehen würde.
«Wie heisst du denn?», versuchte Gurk abzulenken.
«Ich bin die Christa. Herr Auskunftsbeamter, sagen Sie schon, glauben Sie an Engel?»
«Nun, also gesehen habe ich richtige Engel noch nie wirklich. Aber hier ist es auch kaum der Ort, wohin sich Engel verfliegen. Ich habe aber schöne Formulare. Möchtest du ein Formular ausfüllen? Ich habe auch Buntstifte, einen roten und einen blauen.»
«Ich kann aber nicht schreiben! Behalten Sie ihre langweiligen Formulare, die haben ja nicht einmal Bilder drauf! «Herr Auskunftsbeamter, Sie wissen doch alles? Glauben Sie an Engel oder nicht?» Die Kleine war hartnäckig. Gurk in seinen ausgetreten Schuhen und den jämmerlichen Hosen tat mir irgendwie leid.
«Wir haben hier keine Formulare für Engel, schon gar nicht für solche, die nicht schreiben können. Aber wenn es dir Spass macht, dann glaube ich heute an Engel. Auch wenn sie bei uns in keinem Reglement vorkommen. Punkt. Und was kann ich sonst noch für dich tun?»
«Sind sie jetzt böse, Herr Auskunftsbeamter?» Das klang so entwaffnend, dass sogar Gurk lachen musste. Etwas übrigens, das ich noch nie erlebt hatte. Gurk lachte und stapelte zum tausendsten Mal seine Formulare. «Nein mein Engel, ich bin dir nicht böse. Ich habe eben nur selten mit Engeln zu tun.»
«Ich bin nämlich selbst ein Engel!» rief das Mädchen ins Gurks polterndes Lachen hinein. «Und ich werde mir jetzt einen Wunsch zu Weihnachten erfüllen. Dann brauchst du nicht mehr in so alten, kaputten Schuhen hinter dem Schalter zu stehen und in schäbigen Hosen und mit nur zwei alten Jacken im Schrank. Auf Wiedersehen Herr Auskunftsbeamter und schöne Weihnachten!»
Gurks Lachen brach unvermittelt ab. Überrascht schaute er an sich hinunter. Dann wandte er sich fragend zu mir um. «Haben Sie die gehört? Wie kann die nur wissen ... Kundschaft haben wir heutzutage!» Ich trat aus meinem Versteck an den Schalter. Doch die Kleine war bereits verschwunden. Bei der Eingangstür sah ich nur noch kurz einen goldenen Lockenkopf aufblitzen.
Ob es Engel wirklich gibt, fanden weder Herr Gurk noch ich an diesem seltsamen Tag vor Weihnachten heraus und wenn wir daran glaubten, sprachen wir es nicht aus.

Tatsache aber ist, dass am ersten Montag nach den Festtagen, als ich Herrn Gurk meine Neujahrswünsche überbrachte, dieser mich nach hinten in sein Kabinett winkte. Da stand ein anderer Herr Gurk vor mir! Einer in eleganten Hosen mit messerscharfer Bügelfalte und in glänzenden, nigel-nagel-neuen Schuhen. Und Herr Gurk strahlte mit jedem Tannenbaum um die Wette.

Peter Maibach