Wie jedes Mal freue ich mich darauf, Hans Gurtner zu treffen. Für das Gespräch mit dem Berner Charakterkopf habe ich mir ausreichend Zeit reserviert, denn die Geschichten, die er zu erzählen weiss, will ich mir keinesfalls entgehen lassen.

«Wer ist Hans Gurtner?», beginne ich unser Gespräch an einem kalten Novembermorgen. Etwas erstaunt sieht er mich mit seinen wachen und neugierigen Augen an. Hans Gurtner kennt man selbstverständlich in der Altstadt. Man kennt ihn als Risottokoch, einer der Besten unter Berns Lauben. Hans Gurtner ist pensionierter Heilpädagoge. Präsident vom Hilfsverein der Matteschulen. Vorstandsmitglied der Spysi. Hobbygärtner und ein hervorragender Vorleser und Erzähler. Man lernte ihn im Sommer 2009 auch als Wachtmeister Studer im Freilicht-Theaterstück in Diemerswil kennen

Die vielen Gesichter und Facetten werde ich wohl nicht alle in dieses Interview packen können. Aber versuchen will ich es. Ich habe oft und viel von Hans gehört. Persönlich kennengelernt habe ich ihn aber erst, seitdem ich den Laden an der Badgasse habe und er ab und zu in  seinem Garten in der Nähe am «gärtele» ist.
Ich frage nochmals nach, wer denn nun der Hans Gurtner sei?

Hans Gurtner

«Also der Hans Gurtner ist pensionierter Heilpädagoge. Dieser Teil war lange Zeit ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben und wird es wohl auch bleiben. Seit ich pensioniert bin, werde ich oft für «qualitatives Kinderhüten» angefragt. Ich muss wohl ziemlich verdutzt drein geschaut haben. «He ja, ich mache ab und zu kurze Stellvertretungen», präzisiert er seine Aussage.
Hans Gurtner war von 1979 bis 2008 Lehrer an einer KKA und ab 1991 Schulleiter der Kleinklassen A der Stadt Bern.

«Für mich war es stets ein Bestreben, dass auch Kinder mit schulischen Schwierigkeiten nach Abschluss der Schule einen Arbeitsplatz fanden und nicht einfach auf der Strasse landeten. Sie sollten eine Vorlehre, eine Attestlehre oder allenfalls sogar eine Lehre absolvieren können. Mir war viel daran gelegen, diesen Schülern Mut zu machen, dass man im Leben mit Fleiss, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Anstand auch etwas erreichen kann. Nicht nur die schulischen Leistungen sind wichtig, denn es ist doch so, das andere Faktoren genauso bedeutsam sind. Ich finde auch, dass man mit den Ressourcen und nicht mit den Defiziten arbeiten sollte. Man darf die Hoffnung nie aufgeben, etwas erreichen zu können. Aus dieser befriedigenden Situation heraus bin ich in Pension gegangen. Für mich brach eine neue Zeit an und die geniesse ich jetzt in vollen Zügen.

«Bist du gerne in Rente gegangen?»

«Ja und nein, aber jetzt, ein Jahr später zeigt sich, dass es der absolut richtige Entscheid gewesen ist. Ich habe vieles, was ich früher aus Zeitgründen nicht mehr machen konnte, wieder aufgegriffen. Jetzt habe ich Zeit für Theaterbesuche, Theater spielen, Lesungen durchführen, Kalligrafie lernen und vieles mehr. Also ich sag dir, langweilig wird es mir tatsächlich nicht. Ich empfinde meinen Ruhestand nicht als Unruhestand, auch wenn ich stets beschäftigt bin. Immer wieder finde ich jetzt Zeit zum Lesen. Das Nichtstun; das bin ich intensiv am Lernen.»

Hans ist ein Mensch der bewusst mit seinen Erinnerungen lebt. «Ich erinnere mich gerne an ein Erlebnis, an eine Geschichte, an eine Aktivität, weiss aber, dass sich Erinnerungen und Erlebnisse nicht wiederholen lassen. Sie sind für mich die Basis von dem, was ich heute bin. Ich kann wählen, welchen Wert eine Erinnerung für mich hat. Ich bin die Summe meines Erlebten und meiner Erfahrung – das ist meine Wahrheit. Auf meinen Erfahrungen und den damit verbundenen Erinnerung, guten und weniger guten, fusst meine heutige Wirklichkeit. Die Vergangenheit ist Erinnerung und lässt sich weder anpassen noch verändern. Erinnerungen bleiben sich treu. Sie können bedrängen, aber auch befreien. Ich finde es tragisch, wenn sich jemand von seinen Erinnerungen behindern lässt. Ich versuche sie so sein zu lassen, wie sie sind und daraus meine Konsequenzen zu ziehen. Meine reichen Erinnerungen erfüllen mein Leben und mein Tun.
Unser Gespräch ist philosophisch geworden. Wir reden und ich höre Hans zu. «Wo bist du eigentlich aufgewachsen?», will ich wissen.

«Ich bin ich Kühlewil, in der «Armenanstalt der Stadt Bern» aufgewachsen. Heute ist es ein Wohn- und Pflegeheim. Früher war es ein Ort für Arbeitslose, Debile und alte Menschen. Ich habe noch zwei jüngere Brüder. Mein Vater führte die Landwirtschaft und meine Mutter half ab und zu in der Glätterei oder in der Küche. Ich empfand es gar nicht lästig, mit speziellen Menschen aufzuwachsen, und heute, wo auch ich bereits alt geworden bin, erinnere ich mich gerne an all die Hermanns, Gottfrieds, Emmas und Bertas zurück. Ich hatte eine schöne Kindheit. Klar es war nicht immer alles nur lustig aber wo ist es das denn schon?

Theaterspielen ist eine weitere Leidenschaft von Hans. Früher schon, er war ungefähr vier Jahre alt, stand er bereits auf den Brettern, die die Welt bedeuten. «Da war jedes Jahr das Krippenspiel in Kühlewil. Die Kinder der Angestellten haben jedes Jahr ein solches aufgeführt. Das war ein wichtiges und nachhaltiges Erlebnis. Dass ich über eine besondere Ausstrahlung besessen hätte, wie es behauptet wird, daran kann ich mich nicht erinnern.»

Viel später wurde er zufälligerweise angesprochen, ob er denn nicht in einem Stück mitspielen möchte. «Ich sass in der Krone hier in Bern. Da sassen die Wirtsleute der Wirtschaft Kuttelbad, welche hinter dem Rücken des lieben Gottes im hintersten Emmental liegt. Die beiden kannte ich schon lange. Der Tschannen schrieb als Beitrag zum ersten Gotthelfjahr ein Theaterstück aus einer Szene von Gotthelfs «Michels Brautschau», welche eben im Kuttelbädli, wie Gotthelf gesagt hat, spielte. Michel hat da sein Mädi kennen gelernt – das war ungefähr 1996 und sie fragten mich, ob ich nicht mitspielen möchte. Ich habe den Wirt gespielt; der Gotthelf hat mich weniger interessiert. Ich hatte sehr viel Spass an dieser Rolle und genoss es auf der Bühne zu stehen. Ich half dann auch in den darauffolgenden zwei Jahren bei weiteren Theaterstücken mit.
«Und dann kam der bekannte Wachtmeister Studer, den du im Sommer 2009 gespielt hast», wende ich ein.

«Ja genau, das war genau nach zehn Jahren und war wieder ein Zufall. Ich besuchte Chrigel Anliker und fragte ihn nach speziellen Schrauben, um ein Bild aufzuhängen. Wir kamen ins Plaudern und seine Frau Bänz kam dazu. Sie erzählte von den «Zytglöggeler» die zum 90 jährigen Vereinsjubiläum den Wachtmeister Studer von Friedrich Glauser in einer Freilichtaufführung in Diemerswil aufführen würden.
«Sie haben noch keinen Studer. Wäre das nicht etwas für dich?», meinte Bänz so nebenbei. «Gibt es Zufälle?» Hans sieht mich fragend an. Da kamen sie die Erinnerungen.  «Gibt es Zufälle?», wiederholt er seine Frage
«In mir tauchten viele Bilder zum Wachtmeister Studer auf. Früher in Kühlewil, gab es in den Wintermonaten jeden zweiten Samstag Filmvorführungen a là Cinema Paradiso. Es wurden alle Studerfilme gezeigt. Die Erinnerungen an diese Zeit waren wieder präsent. Ich konnte es mir vorstellen, den Studer zu spielen.
Ich hatte die grosse Chance, im selben Haus zu wohnen wie Otto und Beatrice Tschumi. Sie war, bevor sie den Tschumi heiratete, die langjährige Lebenspartnerin von Friedrich Glauser. Sie hat mir viel über Glauser erzählt; der Studer ist mir auf einer anderen Ebene näher gekommen. Das sind doch Zufälle?»

«Wie könnte ich den Studer spielen, auf der Bühne verkörpern? Es war keine Frage, ob ich ihn darstellen wollte. Es sollte keinesfalls eine Kopie von Heinrich Gretler werden.
Reduzieren, reduzieren, reduzieren, bis der Studer und der Gurtner eins werden, sich eben verkörpern.» Hans schaut mich wieder einen Augenblick an und fährt weiter.
«Ich will nur Theater spielen, wenn es mir Spass macht und mich herausfordert. Ich sag’s dir, der Studer hat mich herausgefordert und es hat Spass gemacht.»
Ich versuche einen Themenwechsel damit wir in die Matte kommen …

Hans Gurtner hat viele Bezüge zur Matte.

Sein Garten ist in der Matte und dann ist er seit rund zwei Jahren Präsident vom Hilfsverein der Matte-Schulen, Nachfolger der langjährigen Präsidentin Elsbeth Münch.

Der Hilfsverein unterstützt finanziell schlechter gestellte Kinder, um am Mittagstisch teilnehmen zu können, mit Schulreise- oder Landschulwochenbeiträgen sowie allfällig nötiger Ferienbetreuung.
Gemeinsam mit den Lehrkräften wird entschieden, wer Unterstützungsbeiträge bekommt. Normalerweise sind es zwischen 4 – 8 Kinder, die Unterstützung für den Mittagstisch erhalten. Auch gehen regelmässig Beiträge an die Bibliothek. Jährlich werden um die 8›000 Franken ausbezahlt. Langsam aber sicher geht das Geld aus, und es würde uns sehr freuen, Spendengelder zu erhalten. PC Konto: 30-5625-8

«Dann bin ich auch noch Vorstandmitglied der Spysi. Ich bin zuständig «für die Betreuung der Saaldamen.» Wir lachen laut, aber sie sind das Fundament der Spysi. Ohne ihre unentgeltlich geleistete Arbeit könnte die Spysi nicht existieren. Da darf man sie schon ein wenig betreuen. Über die Spysi finden Sie den Bericht von Jacqueline Vuillien auf Seite 15.
Seit einem Jahr organisiert Hans jeweils mit Christine Brügger und Annemarie Lanker viermal in der Wintersaison Lesungen in der Galerie Brügger, Kramgasse 31, 3011 Bern. Den Stuhl muss man selber mitbringen. Am Schluss gibt’s Brot, Käse und Wein. Den Unkostenbeitrag von Fr. 5.- - legt man am Schluss in den Topf.

Die Zeit, die wir an diesem grauen Novembermorgen zusammen verbracht haben, war kurzweilig, spannend und leider viel zu schnell vorbei. Hans verabschiedet sich und fährt hinauf an die Gerechtigkeitsgasse. Ich eile in den Laden und das Gespräch hallt noch lange nach. Herzlichen Dank Hans, für deine spannende Geschichten.

Rosmarie Bernasconi