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Foto Nicole Stadelmann
Im Laufe der Zeit hatte man sich daran gewöhnt. Die alte Frau kam jeden Tag zum Lift und jeden Tag sagte sie das Gleiche: «Einmal fahre ich ans Meer». Und sie schaute dabei hinauf in den Himmel, der sich über der Badgasse auftat. Manchmal war der Himmel blau, manchmal grau, manchmal nichts und manchmal tauchten dort Möwen auf, kurz nur, um mit einem Flügelschlag gleich wieder über die Dächer zu verschwinden. «Wenn die Möwen da sind, kann das Meer auch nicht weit sein», sagte die Frau. Dann drückte sie in der verglasten Kabine den Knopf mit dem Pfeil nach oben und glitt himmelwärts. 30 Sekunden lang. Oder kurz. Je nach dem. 30 Sekunden können eine halbe Ewigkeit sein, wenn man es eilig hat im Leben. Aber die Frau hatte es nicht eilig. Esgab keinen Grund dafür. «Zeit ist relativ», sagte sie, blieb oben beim Café «Einstein au jardin» stehen und blickte von der Münsterplattform Richtung Süden, wo die Berge sich erheben.
Damals, als die jungen Bewegten draussen auf der Strasse lauthals «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer» forderten, damals war sie schon nicht mehr jung, musste drinnen arbeiten. Schuhverkäuferin. Sie sei zwar bei der Arbeit auf die Knie gegangen aber buckeln vor der Kundschaft – nie. «Wenn die Füsse nicht gewaschen sind, dann stinken sie auch in den teuersten Schuhen», sagte sie.
Oder: «Wer auf grossem Fuss lebt, hat nicht automatisch auch ein grosses Herz «. Das habe sie gelernt und nie vergessen, «ein Schuh besteht grundsätzlich mal aus einem oberen und einem unteren Teil». So wie es auch bei den Menschen obere und untere gebe. «Solche, die unten durch müssen und nichts dafür können. Item». Sie habe immer schnell gespürt, wen und wo der Schuhe drücke – auch wenn es gar nicht der Schuh gewesen sei.
Im Laufe der Zeit hatte man sich daran gewöhnt. Die alte Frau kam jeden Tag zum Lift und jeden Tag sagte sie das Gleiche: «Einmal fahre ich ans Meer». Und sie schaute dabei hinauf in den Himmel, der sich über der Badgasse auftat. Manchmal war der Himmel blau, manchmal grau, manchmal nichts und manchmal tauchten dort Möwen auf, kurz nur, um mit einem Flügelschlag gleich wieder über die Dächer zu verschwinden. «Wenn die Möwen da sind, kann das Meer auch nicht weit sein», sagte die Frau. Dann drückte sie in der verglasten Kabine den Knopf mit dem Pfeil nach oben und glitt himmelwärts. 30 Sekunden lang. Oder kurz. Je nach dem. 30 Sekunden können eine halbe Ewigkeit sein, wenn man es eilig hat im Leben. Aber die Frau hatte es nicht eilig. Es
Alles Geschichte
Den ersten Milchkaffee am Morgen trank die alte Frau jeweils irgendwo in der Stadt, las eine halbe Stunde «20 Minuten», sagte dazu «schade um die Zeit, schade ums Papier» und las weiter. Im Sommer trug sie eine geblümte Bluse, im Winter einen grauen Mantel. Das ganze Jahr über die braune Kunstleder-Tasche in der rechten Hand. Darin das Portemonnaie mit dem schwarz-weissen Automatenföteli ihres Mannes. «Der Krebs hat ihn gefressen, nicht einmal zwei Jahre pensioniert. Am Schluss wog er noch 38 Kilo. Bei der Post war er. Paketpost. Ein stattlicher Mann. Wir hatten es gut zusammen». Den Garten. Lesen. Und jedes Jahr zwei Wochen Ferien in Adelboden. Gleiches Hotel, gleiches Zimmer, gleicher Balkon, mit Blick auf den Lohner. Hinter den Bergen sei das Meer, habe er dann gesagt, sagte sie. Dorthin gegangen seien sie aber nie. Und Kinder? «Hat nicht sollen sein.». Im Arbeiterturnverein hätten sie sich kennengelernt. «Es war eine SATUS-Liebe», sagte sie und: «er hat unseren Hochzeitstag und den 1. Mai nie vergessen».
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Die alte Frau besuchte ihren Mann regelmässig. Auf dem Bremgartenfriedhof. Das Grab stets frisch angesetzt. Sommerflor. Schon wieder Schleimspuren. Sie streute Schneckenkörner. Euch will ich. Manchmal fuhr sie auch mit dem Bus ins Ikea. Sie brauchte nichts, kaufte trotzdem beim Hinausgehen ein Zwölferpack Abwaschschwämme (nicht kratzend) und ass zwei der billigen, geschmacklosen Hotdogs. Und einmal in der Woche ging sie in den Bahnhof und setzte sich beim Treffpunkt hin. Für drei Stunden. Sie beobachtete die Menschen, wie sie sich umarmten beimWiedersehn oder beim Abschiednehmen, wie sie nervös auf die Anzeigetafeln mit den wechselnden Abfahrtszeiten blickten oder wie sie stur auf ihr Handy starrten. Menschen kamen und setzten sich neben die Frau. Links und rechts. Sie schwiegen, sagten nichts, standen auf und gingen wieder. Niemand hatte den gleichen Gang.
Alles vorbei
Es war an einem regnerischen Mittwoch, als die alte Frau nicht zum Lift kam. Das erste Mal. Am Donnerstag auch nicht. Freitag ebenso. Und am Samstag war es klar: Sie fehlte. Ihre stets gleichen Worte fehlten, ihr Kommen und Gehen, ihre fragenden Augen, ihr Dasein, ihr ganz normales, unspektakuläres Leben. Eine Lücke tat sich auf, ihre Lücke in dieser kleinen Welt, wo sie ihren Platz hatte, dazu gehörte. Eine Lücke, die nur sie füllen konnte, indem sie wieder kam. Sie kam aber nicht.
Irgendwann kam nur eine Postkarte. An den Mattelift, Senkeltram, Bern. Farbig. Die Amalfiküste, Italien, felsig, schroff, gelbleuchtende Zitronenhaine – und ganz, ganz viel tiefblaues Meer.
Auf der Rückseite der Karte, mit blauem Kugelschreiber hingekritzelt, zwei Worte: Mehr Meer.
Der Poststempel rechts oben in der Ecke war zwar ziemlich verwischt, konnte aber bei genauerem Hinsehen dennoch entziffert werden: 3715 Adelboden.
Text: Pesche Maurer, Matte-Liftboy und langjähriger Radio-Reporter. Bild: Nicole Stadelmann