- Details
Am Längmuur am Flussufer liegen grosse Schiffe. Wer zur richtigen Uhrzeit dort spaziert, sieht Menschen am und auf dem Wasser, mit langen Stangen, Rudern und Seilen hantierend, auf den Schiffen stehend sich in der Aare auf- und abwärts bewegen. Was passiert hier eigentlich genau?
Bern ist auch Schwarz Gelb Rot
Was Spazierende hier beobachten ist «Wasserfahren», eine Sportart, die zu Bern gehört wie die Aare oder YB. Am Längmuur liegt der Trainingsort des Aare Club Matte Bern ACMB, den es seit genau 111 Jahren gibt. Vieles hat sich seither verändert, unverändert ist die Leidenschaft für einen naturnahen Sport, für die Aare und für die Faszination des Zusammenspiels von Kraft und Technik. Gefahren wird auf einem Weidling, einem langen, flachen rund 300 kg (!) schweren Schiff. Am Ufer wird der Weidling mit den sogenannten «Stacheln» gegen den Strom gestossen. Mit dem Strom wird das Boot mit Rudern bewegt und gesteuert. Der Weidling wird stehend gefahren, entweder von einer Person hinten im Schiff oder von zwei Personen, wobei eine hinten und eine vorne steht. Im Boot können auch Gäste transportiert werden. Für die schweizweit stattfindenden Wettkämpfe muss eine genau vorgegebene Strecke in möglichst kurzer Zeit möglichst präzis absolviert werden. Das «Weidlingsfahren» ist aus alter Flösser- und Fischertradition entstanden. Es wird auf der Liste der Lebendigen Traditionen der Schweiz geführt – aus der Stadt Bern sind dort noch Aaareschwimmen, Zibelemärit und die Grossen Berner Renntage zu finden. Da hat der ACMB also YB etwas voraus.
Kraft, Technik und die richtige Portion Geistesgegenwart
Am Ufer entlang rauf, durch ein Tor (das sogenannte «Joch») flussabwärts und landen – das tönt einfach. Ist es aber nicht! Nur schon auf dem grossen Schiff stehend das Gleichgewicht zu halten, ist eine Herausforderung (ich spreche aus Erfahrung!). Wasserfahren braucht viel Kraft, aber auch die richtige Technik – und die Beherrschung der Kunst, die Kraft Flusses richtig zu nutzen. «Das Wasser und die Strömung richtig lesen», heisst das im Fachjargon.
«Weil diese Strömung nie ganz gleich ist, bleibt das Wasserfahren spannend!», meint eine Wasserfahrerin. Und ein Wasserfahrer führt aus: «Man muss schnell Entscheidungen treffen und danach entschlossen agieren.» Zu spät oder zu früh das falsche Manöver und das Schiff wird von den Kräften des Flusses mitgerissen. Gelingt es aber, das richtige im richtigen Moment zu tun, dann stimmt alles: «Den grossen Weidling sicher an den geplanten Zielort manövrieren zu können, egal ob voll beladen oder leer, ist einfach ein grossartiges Gefühl.» Fitnesscenter unter freiem Himmel – Teambuilding-Kurs eingeschlossen «Ich liebe das Wasserfahren, weil es eine naturnahe Sportart ist, bei dem die verschiedensten Muskeln gebraucht werden», erklärt eine junge Wasserfahrerin. Wer Wasserfahren trainiert, spart sich das Abo im Fitnesscenter: in der freien Natur werden bei diesem Sport Muskeln trainiert und der Gleichgewichtssinn geschult. Paarfahren, bei dem zwei Personen gemeinsam das grosse Schiff bewegen, funktioniert nur, wenn die beiden sich blind verstehen, Zeichen zu deuten wissen und aufeinander eingehen und harmonieren. Alle trainieren oft gemeinsam – so wird generationsübergreifendes Lernen möglich und Respekt zwischen Jung und Alt zur Selbstverständlichkeit. Die Koordination beim «Stacheln», die Wendemanöver, die Rudertechnik, bei der am Schluss ein «Zwick» für die Beschleunigung des Schiffs sorgt, die aufeinander abgestimmten Handlungen der beiden Fahrenden… dies alles führt, wenn es wie gewünscht gelingt, zur «perfekten Eleganz im Bewegungsablauf», wie es ein ACMB-ler ausdrückt. Spazierende am Längmuur können solche Momente geniessen, wenn sie sich die Zeit zum Innehalten nehmen. Regen hält übrigens Wasserfahrerinnen und Wasserfahrer nicht davon ab, ihre Leidenschaft zu pflegen. Im Winter weichen die Sportlerinnen und Sportler auf den Wohlensee aus oder trainieren in der Turnhalle oder daheim ihre Muskeln, um im Frühling fit in die neue Saison zu starten.
Von der Aare an den Rhein und darüber hinaus
Wasserfahrclubs gibt es an vielen Orten in der Schweiz – und so sind die Sportlerinnen und Sportler des ACMB oft unterwegs, um an den nationalen Wettkämpfen teilzunehmen. Die «Wasserfahrfamilie» besteht aus ganz unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Regionen, die sich an den Wettkämpfen in verschiedenen Kategorien sportlich messen. «Der Wettkampf wird von 8-9-Jährigen bis hin zu 70-80-Jährigen mit demselben Elan betrieben», freut sich ein Kampfrichter. Eben so wichtig ist aber auch die Pflege der Gemeinschaft. Die Beteiligten kennen sich gut – von Wettkämpfen oder dem jährlichen Jugendlager in der Innerschweiz – und freuen sich über Begegnungen und pflegen teilweise lebenslange Freundschaften. Diesjähriger Saison-Höhepunkt ist das Eidgenössische Weidlingswettfahren in Basel vom 1. - 3. September.
Wasserfahren kann man aber auch ohne Wettkampfziel «zum Spass», als naturnahe Ausflugsmöglichkeit, um die Welt auf Flüssen und Seen zu entdecken. Dann wird der Weidling zum Reisegefährt und die Wasserfahrerinnen und Wasserfahrer zur Schweizer Version der venezianischen «Gondoliere». Manche ACMB-Leute haben es so mit ihrem Weidling von der Aare bis ans Meer geschafft.
Auf weitere 111 Jahre ACMB!
Wasserfahren hat eine lange Tradition. Und die soll fortgeschrieben werden. Dafür braucht es junge Menschen, die den Sport in die Zukunft tragen. Der ACMB setzt sich mit seinem JungfahrleitendenTeam engagiert dafür ein. Einer der Leiter erklärt: «Uns ist die technische Ausbildung sehr wichtig. Wir lernen, das Wasser zu lesen, den Weidling zu beherrschen und allfällige Gefahren einzuschätzen und rechtzeitig zu erkennen.» Zur Ausbildung gehört auch Schwimmen samt Schwimmprüfung, um die nötige Sicherheit auf dem Wasser zu garantieren. Wasserfahren ist, wenig erstaunlich bei riesigen Booten und starker Flussströmung, «anstrengend», aber gleichzeitig «befreiend» und «spassig» – so die Worte eines ambitionierten Jungfahrers. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass es auch im Alltag praktische Seiten hat, wenn ein Familienmitglied aktiv im ACMB mitmacht: Wenn ein Gonfi-Glas nicht aufgehen will, wenn schwere Einkäufe ein paar Treppen rauf getragen werden sollen – einfach den Wasserfahrer oder die Wasserfahrerin in der Familie fragen!
Im Herbst kann im Rahmen der Längmuur-Chilbi das Wasserfahren wieder ausprobiert werden. Oder: ganz einfach auf dem nächsten Spaziergang die Scheu (und vielleicht auch das eine oder andere Vorurteil) überwinden, die Trainierenden ansprechen und sich von der Begeisterung anstecken lassen!
Informationen zum ACMB: aareclubmattebern.ch zum Eidgenössischen Weidlingswettfahren https://www.eww2023.ch/ Kommt mit und feuert die Berner-Crew an!
Marianne Schär Moser, Mutter eines Jungfahrers und begeisterte Zuschauerin