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Das Buch «Fremdplatzierte Kinder verstehen» erschien im Mai 2022 im Stämpfli Verlag
Die Co-Autorin Maria Künzli und Marc Baumeler, Mitglied der Buchprojektgruppe, empfangen mich herzlich zum Gespräch in der Matte, um das neue Buch vorzustellen. Marc Baumeler ist Verwaltungsratpräsident bei «JugendhilfeNetzwerk Integration». Er ist ausgebildeter Lehrer, Schulleiter, arbeitete als Redaktor und Moderator bei Radio Aktuell St.Gallen. Er ist in der Ostschweiz aufgewachsen. Maria Künzli studierte Germanistik, Medienwissenschaft und Musikwissenschaft in Bern und Wien. Sie war von 2005 bis 2018 Musikredaktorin der «Berner Zeitung.» Ich trete ein in eine wunderschöne, helle Wohnung mit Blick auf die Aare und den Bärenpark. Maria und Marc leben, mit ihrer Tochter Mia, seit 2013 hier an der Wasserwerkgasse. Maria Künzli bin ich schon oft in der Matte begegnet, Marc habe ich vor allem über die sozialen Medien wahrgenommen.
«Was war die Motivation, dieses Buch zu schreiben?»
«Der Auslöser dafür war: Vor rund zehn Jahren begann man mit der öffentlichen Aufarbeitung der Geschichte der Verdingkinder. Kein einfaches Kapitel in der Geschichte. Und die Gefahr ist, dass man schnell einmal sagt, nun sei ja alles besser als früher. Die Erzählungen der Verdingkinder oder der Fremdplatzierten werden abgehakt, man will sich nicht mehr wirklich damit beschäftigen», erklärt mir Marc. «Für uns ist es deshalb notwendig, dran zu bleiben. Denn nach wie vor ist das Thema der Fremdplatzierung ein wichtiges Thema in unserer Gesellschaft», erklärt mir Marc und fährt weiter. «Urs Kaltenrieder und Susanne Frutig, die Gründer von «Jugendhilfe-Netzwerk Integration» wollten für dieses spezielle Thema Autorinnen, die nicht aus der «sozialen Branche» sind, damit die Porträts aus einer Aussensicht geschrieben werden konnten. Schlussendlich ergaben sich acht Porträts unterschiedlicher Menschen zwischen 29 und 75, die von den beiden Autorinnen, Maria Künzli und Stefanie Christ verfasst wurden. Stefanie Christ war ebenfalls Journalistin, heute ist sie Autorin und Kommunikationspezialistin.
Sechs der Porträts schrieb Maria. Zwei stammen von Stefanie, sie kümmerte sich auch um die ergänzenden Texte von Fachperso-
nen. Zusammen mit den Lebensgeschichten entstand daraus das Buch.
«Zu Beginn unserer Arbeit wollten einige Erzählende anonym bleiben. Erst zum Schluss hin, fanden sie, dass sie nun doch mit ihrem eigenen Namen hinstehen wollen. Es war eine herausfordernde Arbeit», erzählt mir Maria und fährt weiter. «Natürlich war es eine grosse Aufgabe für mich, dass ich den Menschen gerecht werden konnte. Gemeinsam war es aber für alle ein guter Weg», erzählt Maria dankbar.
«Was waren die grössten Hürden für dich?»
«Es war ein anderes arbeiten, als ich es mir bis jetzt gewohnt war.»
Maria arbeitete viele Jahre als Journalistin bei der Berner Zeitung, bevor sie 2018 mit Stefanie Christ ihre eigene Agentur, Atelier CK - Kommunikationsagentur für gehaltvollen Content, gründete.
«Ein Teil war journalistisches Arbeiten und anderseits auch eine Art Biogfrafiearbeit. Wir wollten und mussten uns auf die unterschiedlichen Geschichten einlassen. Nein, wir konnten die Arbeit nicht schnell mit ein paar Fragen erledigen, denn es brauchte viel Zeit. Es gab sehr berührende und auch traurige Momente. Es war für mich schön, die Texte gemeinsam zu entwickeln. Sie pendelten mehrmals hin und her, bis sie für alle wirklich gepasst haben. Manchmal muss man eben Texte auch etwas setzen lassen, damit es für alle wirklich passt», sagt Maria nachdenklich.
«Wer soll dieses Buch lesen?»
«Leute sollen es lesen, die selber betroffen sind, denen es ähnlich ergangen ist. Selbstverständlich auch Menschen, die sich für das Thema und Lebensgeschichten interessieren. Es ist ebenso für Fachpersonen geeignet wie für angehende Pflegeeltern», sagt Maria.
Marc ergänzt: «Ausbildung von neuen Pflegfamilien, diese reagieren gut auf das Buch. Wer eher zurückhaltend reagiert, sind die Fachpersonen. Es ist uns wichtig, dass auch sie die Erfahrungen anderer lesen. Gerne würden wir Lesungen und Gespräche durchführen. Es soll jeweils eine porträtierte Person dabei sein, denn diese haben am meisten Kenntnis und können darüber erzählen. Ich werde als Moderator dabei sein», ergänzt er. «Was waren beim Buchprozess die grössten Schwierigkeiten der fremdplazierten Menschen und was sind die Stärken?», frage ich weiter.
«Die Stärken: Es sind alles Leute, die sehr bei sich sind, und ihre Geschichte aufgearbeitet haben, denn sie haben doch schon eine gewisse Distanz zu dieser Zeit. Schwierigkeit: Unterschätzt haben sie zu Beginn, was es auslöst und, dass ihr Erleben in einem Buch erscheinen wird und es alle lesen können», erklärt mir Maria. Marc ergänzt: «Sie hatten allerdings bis kurz vor Drucklegung Zeit, nochmals zu entscheiden, ob der Text wirklich im Buch stehen soll. Alle Porträtierten trafen sich vor der Veröffentlichung im Restaurant zu Webern in der Altstadt. Alle erhielten die Texte von jedem vorab und konnten diese durchlesen. Es war ein lustiger und sehr fröhlich Abend», lacht er.
«Nun ist das Buch auf dem Markt und es sollen es möglichst viele Menschen lesen. Jetzt will ich doch noch das eine der andere von euch beiden wissen», sage ich unvermittelt.
«Seit wann lebt ihr in der Matte? – und was gefällt euch besonders hier?»
«Bestes Quartier in der schönsten Stadt der Welt», kommt es wie aus der Pistole geschossen vom Ostschweizer Marc Baumeler. Marc ist in Amriswil und Kreuzlingen am Bodensee aufgewachsen und mag auch die Aare!
«Ja wir lieben die Matte, unsere erste gemeinsame Wohnung war an der Schifflaube im 1. Stock, Als ich schwanger wurde, zogen wir in den Breitsch. Nach vier Jahren fanden wir hier an der Wasserwerkgasse diese Wohnung und für uns war es keine Frage, wieder in die Matte zu ziehen», erzählt mir Maria mit leuchtenden Augen.
«Was macht ihr privat? Also, wenn ihr nicht gerade mit eurer Arbeit beschäftigt seid?»
«Ich nähe sehr gerne, schon als Teenager habe ich genäht, mit der alten Nähmaschine meiner Mutter. Mit dieser Maschine nähe ich nach wie vor auch heute noch gerne, Taschen, Kleider und anderes und zweimal im Jahr gehe ich mit drei Freundinnen auf einen Handwerkermarkt, z.B. Herbstmarkt in Münsingen oder an den Weihnachtsmarkt in Köniz, was mir grossen Spass macht», berichtet Maria.
«Ich habe ein Rennvelo von Copin, aus der Matte», sagt Marc nicht ohne Stolz. «Kein E-Bike?», lache ich. «Ich interessiere mich aber noch für etwas Sinnloses – Fussball»! Herzhaftestes Gelächter aller. «Nein, nein ich spiele nicht selbst, ich rede nur gerne über Fussball und ich bin nach wie vor ein grosser Fan vom FC St.Gallen.» Ja reden kann der kommunikative Marc gut und so ist es nicht verwunderlich, dass er auch heute noch Radio macht: für fscg.fm.
«Was gefällt euch hier unten?»
«Wasser – ich höre das Rauschen der Aare. Man kann die Kinder allein durch die Matte ziehen lassen – man kennt sich. Und wenn es heiss ist gehen die Kids in den Mattebach und machen Wasserschlachten …», lacht Maria
«Von wem hat Mia die schriftstellerischen Qualitäten», frage ich zum Schluss
«Schriftstellerisches Talent hat sie von der Mutter und «s’Schnorre» vom Vater», sagt Marc lachend.
Vielen herzlichen Dank für das ernste, humorvolle und spannende Gespräch.
Text und Bild: Rosmarie Bernasconi
Informationen zum Buch
«Fremdplatzierte Kinder verstehen» erzählt Geschichten über Entwurzelung, über Gewalt und Vernachlässigung, über Ängste und innere Kämpfe. Es sind aber auch Geschichten von Neuanfängen, Chancen und Versöhnungen. Die Betroffenen, die in diesem Buch porträtiert werden, sind zwischen 29 und 75 Jahre alt und wuchsen aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern auf. Als Erfahrungsexpertinnen und -experten berichten sie, was fremdplatzierte Kinder wirklich brauchen, und zeigen auf, wie schnell ein Kind zum Spielball von Kantonen und Behörden wird.
Gespräche mit Fachpersonen und Hintergrundtexte gehen der Frage nach, wie eine Fremdplatzierung ablaufen sollte, bei der das Wohl des Kindes im Zentrum steht. Dabei zeigt sich: Der richtige Umgang mit fremdplatzierten Kindern ist keine Frage der Professionalität. Es ist eine Frage der Haltung.
Buchprojektgruppe:
Marc Baumeler, Verwaltungsratspräsident Jugendhilfe-Netzwerk Integration, Susanne Frutig,
Co-Herausgeberin, Atelier ASPOS AG
Urs Kaltenrieder, Co-Herausgeber, Atelier AS-
POS AG
Maria Künzli und Stefanie Christ, Autorinnen
Ruth Staub, Erfahrungsexpertin und Fachperson Biogfrafiearbeit
Trägerschaft
Das Jugendhilfe-Netzwerk Integration ist eine gemeinnützige Aktiengesellschaft. Alleinaktionärin ist die Stiftung Innovation Emmental Napf.
www.atelierck.ch
Maria Künzli und Stefanie Christ
Kommunikationsagentur