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Mein Bild von Ann? Ich schaue zum Fenster hinaus. Zuerst trottet ein beiger Labradordoodle durch die Schifflaube, angebunden an einer langen, gelben, aufs Maximum ausgezogenen Leine. Daran hängt eine kleine Frau, die wie wild in ihr Telefon spricht und sich durch die Schifflaube ziehen lässt. Ich weiss, jetzt wird es Zeit, vorwärtszumachen und in den Laden zu eilen, zum Gespräch für den Mattegucker. Wir treffen uns, für mich in frühen Morgenstunden, um 09.00 in der Buchhandlung Einfach Lesen, gleich neben der Polygonschule. Seit 2019 ist Ann Maillart, mit einem Teil ihrer Schule, meine Geschäftsnachbarin.
«Wer ist Ann Maillart?»
lautet meine erste Frage. Ann schaut mich mit grossen, braunen Augen überrascht an. «Ich bin ein Mensch, der mit Herz und Leidenschaft lebt. Ich liebe meine Berufung und meine Familie. Ich mag Menschen, Tiere und auch die Natur und ich liebe meine Hündin Shelly und meine Katzen.»
Ann scheint oft wie auf einer Rennbahn unterwegs zu sein. Wo andere schon längst innehalten und nach Atem ringen, gibt sie Vollgas. «Ich bin geduldig, beharrlich und ausdauernd», schätzt sie sich selbst ein. «Mit meinen «Schützlingen» bin ich sehr geduldig.» Ich muss sie erstaunt angeschaut haben. «Weisst du, das sind Qualitäten, gegenüber anderen, die ich an mir schätze. Nur mit mir bin ich nicht so geduldig und so gelassen.» Wir schmunzeln.
Ann ist authentisch, sie kann gleichzeitig lachen und schimpfen mit ihren Lernenden und auch mit ihren Mitarbeitenden.
Ann lebt seit 21 Jahren in der Matte. Sie zog vom Land her ins Marzili und dann vom Marzili aareabwärts ins Mattequartier. «Als eine meiner Töchter bei uns zuhause eine grosse Party steigen liess, überliess mir ihr damaliger Partner seine Wohnung in der Matte als ruhigeren Ausweichort. Als ich dann an der Schifflaube das erste Mal übernachtete und das Rauschen der Aare hörte, war mir sehr klar, dass ich hier in der Matte wohnen möchte.»
Ann Maillart arbeitet als Heilpädagogin Lerntherapeutin IL und ist zudem Geschäftsleiterin der Polygonschule hier in Bern. Die anfangs kleine Schule wurde von Ann vor rund 18 Jahren an der Schifflaube gegründet. Sie arbeitet mit Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsschwierigkeiten zusammen.
Zuerst unterrichtete sie am Abend in ihrem Wohnzimmer. Später fand sie einen Fabrikraum im Oktogon im Marzili. Etwas später übergab sie die Schule ans TEAM-WERK, blieb dort aber angestellt. Und weil sie es nicht lassen konnte, mit Jugendlichen zu arbeiten, die ihre Hoffnung verloren haben, die alle andern bereits aufgegeben hatten, weiterzumachen, gründete sie LernArt. Sie arbeitet an verschiedenen Orten, etwa auf Bauernhöfen, mit Jugendlichen, die dorthin platziert sind. Es ist ihr wichtig, das Potenzial dieser Menschen zu erkennen. Sie arbeitet so lange mit ihnen, bis sie bereit sind, in einer Gruppe weiter zu lernen.
«Jugendliche verweigern oft das Lernen und meine Aufgabe ist es, die Bereitschaft und Freude am Lernen zu wecken, damit auch sie etwas Neues kennenlernen können. Auch ist es mir wichtig, dass die jungen Menschen ihre Fähigkeiten entdecken, sei es so etwas einfaches wie ein Feuer zu entfachen, den Computer kennenlernen oder auch im Stall zu arbeiten. Es geht darum, dass sie aus der inneren Blockade herauskommen und aktiv in die Handlung gehen. Es ist immer sehr schön, die Fortschritte zu erkennen, zum Beispiel wenn mir die Jugendlichen etwas zeigen können, vielleicht im Stall, wenn ein Kälbchen geboren wurde», erzählt Ann mit sanfter Stimme.
«Seit wann ist die Polygon wieder in deinen Händen?»
«Nach meiner Pensionierung wollte ich nur mit LernArt weiterfahren. Ich suchte einen kleinen Praxisraum. Der frühere Chef von TEAM-WORK ist für ein gemeinsames Projekt auf mich zukommen. Nach drei Monaten ist er ausgestiegen und für mich war klar, dass ich es weiterziehen wollte.» Ann gab nicht auf, denn ihr liegen Menschen am Herzen. Nach sechs Monaten mit vielen Kosten und nur drei Schüler im Jahre 2018 entschied sie sich für die Polygon GmbH. «Du hast im letzten Sommer die Polygonschule massiv vergrössert – was war deine Motivation?»
«Im Frühling 2020 kam Corona – und da gab es viele Kinder und Jugendliche, die keinen Schulplatz finden konnten. Da Ann bereits 2019 die Bewilligung zum Führen einer Sonderschule erhielt, kam eines zum andern und so entschloss sie sich, die Polygonschule zu erweitern.
«Wie lange möchtest du denn die Schule noch leiten?»
frage ich sie, mit einem Blick auf Anns 70. Geburtstag, der nicht weit zurückliegt.
«Solange ich mag und kann», sagt sie kurz und bündig. Thema erledigt. Ich bewundere Ann’s Kraft, ihre Beharrlichkeit. Sie liebt ihre Arbeit und ihr Engagement ist bemerkenswert. «Eine Weltreise wäre auch nicht schlecht», fügt sie augenzwinkernd an.
Wie gesagt, wenn ich Ann treffe, wo auch immer, ist sie am Dauertelefonieren. Sie muss stets präsent sein, wenn es irgendwo etwas zu klären gibt. Sei es mit Eltern, Behörden, Lehrer und Lehrerinnen und auch mit den Jugendlichen und den Kindern.
«Was ist eigentlich Polygon für eine Schule?»
will ich noch wissen.
Sie erklärt, mir ihr Schullogo: Das Logo der Polygonschule ist in eine unregelmässige geometrische Form, mit vielen Ecken und Kanten genauso wie alle Schülerinnen und Schüler und Mitarbeitende - und vor allem wie Ann selber. So präsent Ann ist, man kann sie nicht einordnen oder gar in einer Schublade versorgen.
«Was reizt dich besonders an deiner Arbeit?» «Lust und Leidenschaft, brachliegende Ressourcen und versteckte Qualitäten zu finden!» Ann fasst ihre Vorgehensweise so zusammen: «Ich liebe es, die Stärken zu stärken, um damit die Schwächen zu schwächen.
«Gibt es Momente, in denen auch du kapitulieren musst?» «Ja, wenn ich sehe, dass eine Schülerin oder Schüler in unserer Schule keine Entwicklungsschritte mehr machen kann. In einem solchen Moment ist es auch für mich schwierig, eine Entscheidung zu fällen. Dies braucht Mut, sich einzugestehen, dass es besser ist, einen andern Platz für das Kind oder den Jugendlichen zu finden.
«Wo sind deine Grenzen?»
«Wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler sich und andere gefährdet», sagt sie, ohne zu zögern. «Wo holst du dir die Kraft, um deinen anspruchsvolle Beruf auszuüben?»
«Meine Hündin Shelly ist ein grosses Geschenk für mich. Shelly ist Liebe pur. Sie bringt mir, aber auch in den Schulklassen, viel Ruhe mit in den Alltag.»
Selbstverständlich schöpft sie auch aus ihrer Familie grossen Rückhalt. Ihre beiden Grosskinder Mia und Sophie liebt sie über alles und wie von Grosis üblich werden sie selbstverständlich verwöhnt. Grosiabenteuer gehören zu ihrem Alltag.
Ab und zu gönnt sich Ann eine kleine Auszeit, ganz für sich allein: Dann taucht sie ab, nebenan bei Alba Casanova, in der Second-Boutique Stoffwechsel an der Schifflaube 52, stöbert in den eleganten Kleidern. Danach zeigt mir Ann jeweils mit strahlenden Augen die Trouvaillen, die sich erstanden, hat.
Und wenn es die Zeit erlaubt, verweilt sie gerne in ihrem alten kleinen Camper, sitzt in der Sonne, um Energie zu tanken, damit sie ihre vielfältige Arbeit bewältigen kann.
Text: Rosmarie Bernasconi
Bild: Nicole Stadelmann
Die Polygon-Schule wurde 2003 gegründet, um Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen in kleinen Klassen und im Einzelunterricht zu fördern.
Im Zentrum unseres Wirkens steht der junge Mensch - mit ihm sein Potenzial zu entdecken und zu entwickeln, ist unser grösstes Anliegen. Standorte sind: Brunngasse 36, Badgasse 4,
Schifflaube 52, Schifflaube 40.
Im Jahr 2021 umfasst die Schule 51 Schülerinnen und Schüler und 27 Mitarbeitende, die meisten sind pädagogisch oder sozial pädagogisch ausgebildet und dazu gehören auch Auszubildende.