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Früher, 1975
Meine Matte-Geschichte beginnt Anfang 1975, in einem eiskalten Winter. Ich friere noch heute, wenn ich mich daran erinnere, wie ich meine erste eigene Wohnung bezog. In einem alten, nicht renovierten Haus an der Gerberngasse, zwei Zimmer für wenig Geld. Fliessend Wasser, aber nur kalt, kein Bad, ein Kanonenöfeli als einzige Wärmequelle. Mit klammen Fingern haben wir alte Bodenbeläge herausgerissen, Risse in der Decke abgedichtet, Wände frisch gestrichen und die Fensterrahmen mit Migrosgrün gestrichen.
Das Dorf in der Stadt
Kurz vor dem Erfrieren rettete ich mich in die Mattebeiz, ein paar Lauben weiter und wärmte mich bei einer Käseschnitte oder mit dem Menü 1 auf – mit Käse überbackenen Hörnli und Cervelatsalat, serviert auf einem ovalen Chromtablett. Ich war 22, nach einem Sprachaufenthalt und einem Praktikum soeben aus London zurückgekehrt und schaute mich im Leben um, was es nach der Stifti zu bieten hatte.
Es war lässig für uns Junge, in der Matte zu wohnen. Die obere Altstadt war mit dem mageren Anfangslöhnli unbezahlbar. Das Quartier an der Aare unten wurde erst entdeckt und war in Aufbruchstimmung, einmal mehr im Wandel. Ich weiss, die Erinnerung ist eine trügerische Geliebte. Mir scheint die damalige Matte war lebendiger, ein kunterbuntes Durcheinander aus unterschiedlichsten Nationalitäten, Jungen, alten Mättelern, Berner Originalen, Studenten und Nachteulen – einfach allen, die etwas anderes suchten als die übliche Wohnquartiernorm. Mit der Zeit gesellten sich weitere Kollegen und Freunde in die anderen Wohnungen im Haus. Wir richteten Warmwasser ein, eine Dusche kam dazu, eine Waschmaschine.
Ship of Fools – das Narrenschiff
Sehr zum Ärgernis von Frau Holzer, dem Höuzi, und ihren Katzen waren wir ein lautes Haus geworden, festfreudig und immer mit einer offenen Türe. Dass unser Lebensstil den alten Mättelern nicht passte, schien uns völlig unverständlich. Doch die Matte spielte ihre uralte Macht des nebeneinander- und doch zusammen Lebens aus. Auch wenn sich die Mattebewohner untereinander fetzten, ein solidarisches Misstrauen besonders gegenüber der Oberstadt und dem Erlacherhof war die verbindende, sorgsam kultivierte Tradition, in welche wir Neulinge rasch hineinwuchsen.
In der Beiz zuhause
Da lag gleich gegenüber, vor unseren Fenstern, das Fischerstübli. Vorne eine Beiz wie es sie nur noch in meiner Erinnerung gibt. Rustikal, solides Mobiliar. Eine resolute Serviertochter, damals noch politisch korrekt als «Fräulein» angesprochen, schaute zum Rechten, und wer nicht parierte, riskierte, elendiglich zu verdursten. Das Beizenverbot war die Rote Karte des Feierabends: Für mehrere Spiele gesperrt und verbannt. Im hinteren Teil des Fischerstübli lag das Reich von Frau Büzer. Ihre goldenen Schuhe, ihr Pudeli und der Cadillac waren Teil der Legenden, die sich um das damalige Nachtleben und das dazugehörende Gewerbe rankten. Wir aus dem schiefen Haus gegenüber immer mittendrin.
In der Tanzdiele, der Jugenddisco beim Tych, drängten sich an guten Abenden bis zu 700 Personen, etwa als Deep Purple auftraten. Die Eintrittspreise entsprachen mit 4.- dem damaligen Gegenwert von zwei Kaffee créme oder zwei Päckli Zigis. Regelmässig gab der unerträgliche Töfflilärm Anlass zu Klagen.
Verkehr verkehrt
Künstler und Kreative zogen in die Matte. Das Quartier wurde einmal mehr neu entdeckt. Haus um Haus wurde saniert und mit flink nach oben angepasstem Mietzins weitervermietet. Aus der alten Tuchfabrik auf dem Inseli wurden erste, teure Eigentumswohnungen, zu horrenden Preisen, bis 600 000.- munkelte man. Immer mehr alte Mätteler, Gastarbeiterfamilien und Studenten-WG’s zogen weiter, suchten Quartiere mit günstigerem Wohnraum. Die Matte-Gemeinschaft wandelte sich einmal mehr. Besonders die «Matte-Froue» wurden aktiv, begannen ihre Anliegen nach mehr Lebensqualität durchzusetzen. Hauptproblem und Dauerthema war der Durchgangsverkehr. Der Schwerverkehr rollte damals durch die Matte, sie war der Ersatz einer Stadtumfahrung, bis die Autobahn fertig gebaut war. Zudem war die Matte «weisse Parkzone» und somit idealer Parkplatz für die Angestellten in der Oberstadt und die Altstadtbesucher.
Die Stadtmühle belegte alle ihre Liegenschaften am Mühlenplatz mit dem Mühlenbetrieb. Schwere Lastwagen lieferten an und führten weg. An manchen Tagen roch es in der ganzen Matte nach Hundefutter. Die Mühlenarbeiter bildeten einen festen Bestandteil der Znüni-Kultur in den Matte Beizen und Läden. Legendär waren die Sandwiches und heissen Würstli von Fräulein Brönnimann, die in ihrem Lädeli an der Gerberngasse fuhrwerkte, mit einem Sortiment, das alle Wünsche zu erfüllen vermochte. Unsere Heimat!
40 Jahre später
Unsere damalige Arche Noah zwischen dem Zähringer und der Nydegg wurde weiter umgebaut und saniert. Schritt um Schritt verbesserten sich die Wohnstandards. Aus dem resoluten «Fräulein» in Beiz war längst eine freundliche Servicefachkraft geworden, die heissen Würstli waren erlesenen Spezialitäten gewichen. Die Büetzer machten jungen Kreativen und ihrer Entourage Platz. Die in kreatives Schwarz gehüllten Neo-Mätteler prägten bald das Gassenbild. Wir Alteingesessenen blieben zurückhaltend.
Nach zwei Hochwassern steht jetzt ein schickes Haus an der Gerberngasse. Was nicht als schützenswert galt wurde herausgerissen. Der Dachstock mit dem klapprigen Toilettenhäuschen mittendrin ist eine Loft geworden, der windschiefe Anbau ein Gartenzimmer, der staubige Laden ein Designerstudio. Noch heute spüre ich die steile, knarrende und wackelige Holztreppe in den Beinen, denke mit Schaudern zurück, wie wir das ganze Mobiliar hochschleppten. Alle ehemaligen Urbewohner sind weitergezogen, ich bin immerhin bis in die Schifflaube gekommen, andere haben es weiter gebracht. Fliessend Warm- und Kaltwasser, ein schönes Bad, eine richtige Küche und eine Zentralheizung, das schien mir als das Paradies, verglichen mit 1975.
Les Bourgeois – Brel statt Doors
Aber auch wir sind gesetzter geworden, ruhiger. Heute sind grölende Nachtmenschen ein Ärgernis, die Arbeit am Tag wichtiger geworden als kurze Nächte mit ausgeklinkten Zeitgenossen. Einmal verwehen die wilden Jahre zur Vergangenheit, Erinnerungen an eine Zeit, die nur noch im Kopf besteht. Logisch, dass man festhalten möchte, was einem wichtig ist im Leben, wenigstens die Äusserlichkeiten. Doch Stadtleben funktioniert nicht so. Kleine, fast nicht wahrnehmbarer Änderungen treiben uns weiter. Neues fordert seinen Platz, so wie wir unseren geltend gemacht haben.
Vielen der alten Häuser ist es so ergangen. Trotz aller Sentimentalitäten, die Matte ist nicht Ballenberg, wird es nie sein. Am Aussehen der Mattegassen hat sich nicht viel geändert. Einige Fassaden sind neu gestrichen, der Mattebach, ursprünglich mit Steinplatten abgedeckt, fliesst wieder offen durch das Quartier. Die Strassenbeleuchtung ist heller, die Litfasssäule beim Tych ist keine Telefonkabine mit Münzautomat mehr, jetzt glänzt sie als Minimuseum. In den Hinterhöfen werden keine Hühner und Kaninchen mehr gehalten, sondern Partys gefeiert, wenn es denn das Wetter nur irgend zulässt. Aber wer weiss, vielleicht weckt uns bald einmal wieder einmal ein Güggel zum Tagesbeginn? Die Haustüren bleiben auch tagsüber verschlossen, die Briefkästen entsprechen der Norm. Die Aushänge in den Kästen des Matte-Leistes sind sauber am PC ausgedruckt und ordentlich gerade angepinnt.
Amüsiermeile
Nachdem die Stadtmühle in ein Aussenquartier zog, wurden aus den leer stehenden Mühleräumen Ateliers, Lofts, Wohnungen. Nachtklubs schossen aus dem Boden, die Nacht wurde zum Tag. Die Tanzdili war längst geschlossen, andere, modernere Betriebe übernahmen das Nachtleben an der Aare. Einmal mehr wandelte sich die Matte, wurde zu Berns Amüsiermeile. Tout Berne pilgerte in die Nachtmatte. Nach einer Blütezeit war aber zu erkennen, dass das Pendel in die andere Richtung ausschlagen würde. Das Quartier war übernutzt und das Gleichgewicht im sonst gut durchmischten Quartier begann zu wanken. Zudem pflegt jede neue Generation ihr eigene Szene – die Matte geriet wieder aus dem Fokus, die ruhelosen Nachtschwärmer zogen weiter.
Nach den beiden Hochwassern im 1999 und 2005 wurden umfangreiche Sanierungsarbeiten durchgeführt, betroffene Liegenschaften wurde bei dieser Gelegenheit modernisiert. Etliche Mattebewohner zogen weg. Alte Mattefirmen schlossen oder zogen in die Agglomeration. In die frisch sanierten Läden im Erdgeschoss zogen andere Branchen an, erstaunliche viele Coiffeursalons, Wellness, Kosmetik, Physio – die Matte wurde schöner, und die Mattebewohner gleich mitverschönert.
Pollermania
Etwa 1980 hatte das Tauziehen für eine Verkehrsberuhigung begonnen, schrittweise und trotz heftigen Widerständen wurden Veränderungen erreicht: der Schwerverkehr wurde aus dem Quartier verbannt, die blaue Zone eingeführt, Schikanen eingebaut, rechtliche Grundlagen für ein Durchfahrtsverbot und ein Nachtfahrverbot sowie Tempo 30 geschaffen. Die teilweise Durchsetzung der schon lange bestehenden Vorschriften brachte mit der Installation der Polleranlage beim Marzilikreisel den Quartierbewohnern die ruhigen Nächte zurück: Dreitausend Autos und etliche Touristen-Cars weniger pro Tag, die früher durch die Matte rollten. Allerdings sind die Befürchtungen des Gewerbes um weniger Kundenzulauf aus anderen Quartieren verständlich. Ähnliche Ängste erlebte Bern als die Achse Bahnhof – Bärengraben und der Loeb-Egge für den Durchgangsverkehr gesperrt wurden.
Noch aber sind die aktuellen Änderungen nicht wirklich in den Köpfen angekommen. Der Ärger um die verlorene Schnellstrasse und die bequeme Abkürzung wird sich sicher legen und die Chancen nach einem ungewöhnlichen Quartier an der Aare bewusst werden lassen. Die Matte wird sich nach einer ruhigen Zwischenzeit einmal mehr in eine neue Richtung entwickeln.
Neulich organisierte der Matte-Leist ein Quartierfestli, um den frisch sanierten Spielplatz in den Hinterhöfen der Gerberngasse zu eröffnen. Ich sass bei einem Teller Suppe am Rand und schaute zu: so viele Familien, so viele Kinder. Sie brauchen nichts zu wissen von der langen Geschichte der Matte. Auch so nehmen sie mit aller Selbstverständlichkeit das Gebotene in Besitz, entdecken ihre Matte um später einmal zurückzublicken, auf ihre ganz persönliche Zeit in der Matte, als alles so super cool war.
Science Fiction – 2055
Nein, soweit zum Voraus träumen vermag ich nicht. Vorstellen, wie es aussehen wird? Ich jedenfalls werde dann nicht mehr der Aare entlang spazieren. Doch ein paar Wünsche bleiben schon offen.
Die Kinder vom Spielplatzfestli werden dann gestandene Frauen und Männer mitten im Leben sein. Ihre Vorstellungen und Werte werden das Leben in der Matte prägen – sofern sie nicht weiter ziehen.
Die Vision, die wir jungen Trübel von 1975 hatten: Der Mühlenplatz wird zu einer Piazza, mit zahlreiche Cafés rundherum, bunten Sonnenschirmen und vielen Leuten, die Zeit haben zum Plaudern und Verweilen. Konzerte, Strassentheater, Leben – ein wenig Italien im Sommer, ein wenig Wien im Winter. Und dann – bitte, wenn es noch reicht, eine Rutschbahn den Bowäger hinunter.
Peter Maibach
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