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Unten am Tych, zwischen den beiden Schulhäusern in der Berner Matte steht ein eindrucksvoller Felsbrocken. Der hohe, kantige Stein ist beliebt als Kletterfels, jedenfalls bei den Schülerinnen und Schülern, die Mut genug haben, hinauf und auch wieder hinunter zu klettern. Der Stein wurde 1985 beim Bau des Kraftwerkes Matte ausgegraben und auf dem Pausenplatz aufgestellt, ein Findling, wie viele andere, der in der Eiszeit von einem Gletscher bis nach Bern getragen wurde.
Was aber nur wenige wissen dürften, ist dass der Stein innen hohl ist. Natürlich nicht der ganze Stein, sonst würde er dumpf tönen, wenn man darauf klopft. Aber es hat eine Wohnung im Findling und sogar einen Eingang. Der ist sehr schmal und sehr, sehr gut versteckt. Man kann ihn nur finden, wenn man genau weiss wo er ist. Man muss schon genau hinschauen. Und etwas Glück braucht es auch dazu, aber das wissen ja alle, die mit versteckten Höhlen zu tun haben.
In der Höhle im Stein wohnt jemand. Natürlich muss dieser jemand sehr klein und dünn sein, wenn er im Findling wohnen soll, sonst käme man ja gar nicht durch den schmalen Eingang. Wieso ich das alles so genau weiss? Ganz einfach, ich hab’s gesehen! Also, genau genommen hat man es mir erzählt. Jemand, der im Stein wohnt. Das glaubt mir keiner, ich weiss, ich weiss. Es ist schon recht lange her, aber es muss stimmen! Ich erinnere mich noch haargenau an jenen Tag, es war schon früh dunkel geworden. Ein kalter Wind versprach Schnee. Hier und dort wurde in Büros und Wohnungen bereits das Licht angezündet. Die Strassenlampen schaukelten flackernd in den Windstössen. Ich wollte bei der Post nur noch schnell einen Brief einwerfen, dann das Altglas zum Container bringen und nichts wie nach Hause. Beim Pausenplatz sah ich im Vorbeigehen ein kleines etwas, das blitzschnell verschwand. Vielleicht eine Katze, dachte ich, oder gar eine Ratte. Ich machte, dass ich weiterkam.
Aber ich war neugierig geworden. Das «etwas« war zu schnell verschwunden für ein Tier. Und wo war es hingerannt? Auf dem Weg zurück schlich ich vorsichtig um den Findling. Tatsächlich, ich hörte ein Geräusch. Seltsam, es klang wie eine Stimme. Ein Tier konnte das nicht sein, bestenfalls ein Papagei. Vorsichtig schaute ich um die Steinkante. Was ich sah, liess mich zurück zucken. Dann schaute ich nochmals behutsam um die Ecke. Ein kleines, schmales Männchen, höchstens zwanzig Zentimeter gross stand schimpfend vor dem Felsen, klopfte hektisch an unterschiedlichen Stellen an den Stein. Das Männchen war perfekt angezogen, Mantel, grauer Anzug mit weissem Hemd und Krawatte, Gehstock, Handschuhe, Hut und blitzblank polierten Schuhen.
Ich räusperte mich. Das Männchen zuckte zusammen, schaute erschrocken zu mir hoch. Es wollte wahrscheinlich fliehen, blieb aber wie angewurzelt stehen.
«Guten Abend», sagte ich, bloss um etwas zu sagen.
«Guten Abend, mein Herr», erwiderte das Männchen nach einem kurzen Zögern. Es verbeugte sich und zog seinen Hut. Es musterte meine ungeputzten Schuhe, schüttelte den Kopf und sah dann zu mir hoch.
«Würde es Ihnen etwas ausmachen, etwas tiefer herunter zu kommen?», bat das Männchen. «Mir wird schwindlig, wenn ich sie so ansehe.»
Ich kniete auf die leere Altglastüte. Jetzt sah ich auch, wie alt das Männchen war. Sehr alt, wahrscheinlich sogar uralt.
«Entschuldigen Sie meine Neugier, aber das ist doch eher ungewöhnlich?», wunderte ich mich.
Das Männchen hielt sich die Ohren zu. «Nicht brüllen! Ich bin doch nicht taub!»
«Entschuldigen Sie, bitte», flüsterte ich, «ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich bin schon ein wenig überrascht!»
Das Männchen verbeugte sich abermals, zog erneut den Hut in elegantem Schwung.
«Gestatten, das sich mich vorstelle, mein Name ist Nein, Sebastian Nein.» Ich stellte mich ebenfalls vor.
«Leider habe ich keine Visitenkarte», bedauerte Herr Nein», ich musste feststellen, dass niemand die winzige Schrift lesen konnte, deshalb verzichte ich darauf.» «Schon gut», beruhigte ich, «darf ich fragen, was Sie hier beim Findling suchen?»
Herr Nein fuchtelte wild mit dem Spazierstock: «Erlauben Sie mal, ich wohne hier! Seit ewig und noch viel länger.»
«Sie wohnen hier, Herr Nein? Ich habe Sie noch nie in der Matte angetroffen.»
«Ich wohne hier im Stein, das ist doch nicht so schwierig zu verstehen?»
«Im Stein? Sie wollen mir einen Bären aufbinden! Das glaube ich nicht, niemals, nein!»
«Herr Nein, ich bitte Sie, wollen Sie mich beleidigen?» schrie das Männchen erbost.
«Nein, keinesfalls, ich wollte nur nein sagen, Herr Nein, weil ich nicht glauben kann, dass sie im Findling wohnen», entschuldigte ich mich.«Ich habe noch nie einen so kleinem Herrn gesehen», fügte ich an.
«Eben, eben, was sie nicht kennen, das gibt es nicht», tadelte Herr Nein.
«Nein!»
«Herr Nein, ich flehe Sie an!»
«Nein, Herr Nein,», korrigierte ich.
«Einfach Herr Nein, einmal Nein reicht!»
«Nein, Herr Nein, ich sagte nein, weil ich sagen wollte, nein, ich glaube nicht nur was ich nicht sehe. Ich meine, sich sehe, was ich glaube. Ich glaube auch was ich nicht sehe. Ich sehe, was ich nicht glaube.»
«Haben Sie getrunken?», erkundigte sich Herr Nein.
«Nein!», rief ich entrüstet aus.
«Herr Nein, wie oft muss ich es Ihnen noch sagen!» Herr Nein stampfte auf den Boden und fuchtelte wild mit dem Stock.
Mir wurde es langsam aber sicher warm um die Ohren: «Jetzt hören Sie mal zu, Herr Nein, es ist schon etwas viel auf einmal am frühen Abend. Da steht eine Miniaturausführung herausgeputzt auf dem Pausenplatz, behauptet im Findling zu wohnen und ich soll das alles glauben? Ist das denn die versteckte Kamera?»
«Nein», sagte jetzt Herr Nein seinerseits.
«Nein oder Herr Nein, was gilt jetzt?», fauchte ich verärgert.
«Beides. Herr Nein sagt nein, es ist nicht die versteckte Kamera», sagte Herr Nein. Und fügte sicherheitshalber an:«Für Sie immer noch Herr Nein, ja?»
Ich schwieg.
«Jetzt sind Sie verärgert», stellte Herr Nein fest.
«Nein», erwiderte ich und fügte gleich an:«Nein im Sinn von: nein ich bin nicht verärgert, Herr Nein, nein wirklich nicht.
«Nein», sagte Herr Nein. «Sie sagen bloss nein, weil Sie nicht ja sagen wollen.»
«Nein, ich sage nein, weil nein das Gegenteil von ja ist, und das stimmt nicht».
«Nein, das stimmt überhaupt nicht, ja ist ja wirklich das Gegenteil von nein!», verneinte Herr Nein.
«Herr Nein, so kommen wir nie an ein Ende», versuchte ich den Faden wieder aufzunehmen. «Wenn Sie im Stein wohnen, dann gehen Sie doch hinein, Herr Nein!»
«Es ist wie verhext, seit dem Hochwasser klemmt der Stein in kalten Nächten.»
«Sie Ärmster», bedauerte ich. «Soll ich Ihnen den Schlüsselservice bestellen?», bot ich an.
«Nein, ich meine, nein danke», sagte Herr Nein.
«Ein nein ist ein nein, Herr Nein, auch wenn Sie ja meinen», erwiderte ich.
«Sie machen sich lustig über mich!»
«Niemals, nein!»
«Herr Nein! Herr Nein!», schrie Herr Nein. «Nein, Sie lernen es wohl nie!»
Mir reichte es. Ich stand auf, im Weggehen wünschte ich Herrn Nein einen schönen Abend. Nach einigen Schritten blickte ich zurück – das kleine Männchen war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Ich habe Herrn Nein seither nie wieder gesehen. Aber ich habe oft an ihn gedacht, jedenfalls immer wenn ich am Findling vorbei kam. Seither allerdings überlege ich mir sehr gut, bevor ich nein sage.
Peter Maibach
www.petermaibach.ch