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Foto Nicole Stadelmann
Herr Woodtlis Hund hiess Lenin. Es war ein Mops. Einer dieser kleinen, kompakt-gedrungenen Vertreter einer oftmals überzüchteten Rasse mit Atemund anderen Problemen. Allein die kurze Rampe zum Lift, die kaum Steigung aufweist, war mitunter für Lenin schon zu viel. Hecheln, schnaufen, röcheln und die flache Nase liess kaum Luft durch. Und wenn dann noch die Hitze dazu kam. Woodtli schüttelte den Kopf: «So wird das nie etwas mit der Revolution», sagte er zu Lenin, der mit seinen vorstehenden schwarzen Augen im faltig knautschigen Gesicht hochschaute. Woodtli lachte. Die Lifttüre öffnete sich, Woodtli sagte «so, komm jetzt» und in die leere Kabine tretend «heute ist Sonntag und am Sonntag essen wir gäng im Beau Séjour.» Niemand wusste, wieso Woodtlis Hund Lenin hiess und niemand wusste, was es mit diesem Beau Séjour auf sich hatte.
Von Menschen und Tieren
Woodtli war ein famoser Geschichtenerzähler und manchmal im Sommer sass er mit Lenin
auf der Bank unten beim Lift. Über ihnen das gezackte Blätterdach des Spitzahorns. Damals war der Baum noch gesund, später wurde
er krank und musste gefällt werden. «Kaum 40jährig und schon ohne Saft und Kraft» , sagte Woodtli. Er selber war weit über 80 und Lenin ging auf die 10 zu. Die Beiden hatten sich vor ein paar Jahren gefunden. «Wegen meinem Grossvater», sagte Woodtli, «dabei ist der doch schon lange unter der Erde.» Grossvater sei ein richtiger Rösseler gewesen, nichts als die Pferde im Gring. Er habe es halt einfach mit den Tieren besser gekonnt, als mit den Menschen. Und ihm, sagte Woodtli, gehe es heute präzis so wie einst dem Grossvater. Der sei Fuhrmann gewesen, mit Ross und Wagen in Bern für Fuhrhalter Kammermann gefahren. Auch damals, an diesem schönen Spätsommertag anno 1915. Rund um die Schweiz ein riesiges Schlachtfeld Europa, das zweite Jahr im Ersten Weltkrieg. Grossvater habe später die Geschichte, seine Geschichte, immer und immer wieder erzählt. Dabei habe er mit Politik doch nie etwas am Hut gehabt.
Weltgeschichte auf dem Lande
Grossvater habe jeweils so begonnen: Ein sonniger Sonntag sei es gewesen, dieser 5.
September 1915. Beim Eigerplatz habe gegen Mittag eine muntere Gesellschaft gewartet.
„Vögelifründe“ habe es geheissen. Ornithologen aus der Schweiz und dem Ausland. An die 40 Männer und Frauen. Die seien auf die vier Pferdefuhrwerke aufgestiegen und über Um- wege auf den Längenberg kutschiert worden. Auf seinem Wagen, gleich hinter dem Kutsch- bock, habe einer gesessen, eigentlich unscheinbar, eher klein, etwas untersetzt, schwache Stimme, Spitzbart, Dächlikappe – aber diese stechenden Augen. Die habe er nie vergessen. Item. Nach gut zwei Stunden habe man oben in Zimmerwald Halt gemacht. Direkt vor der ziemlich heruntergekommenen Pension Beau Séjour. Hier sei Quartier bezogen worden. Mit einer grandiosen Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. An dieser Stelle, sagte Woodtli, mach- te Grossvater jeweils eine Pause und fuhr dann weiter mit „der Rest ist Geschichte“. Eigentlich Weltgeschichte, sagte Woodtli. Denn kaum zwei Wochen später erfuhr die Welt, dass sich auf dem lieblichen Höhenzug des Längenbergs nicht Vogelkundler getroffen hatten, sondern Sozialisten, Kriegsgegner, aus zwölf Ländern zu einer geheimen Friedenskonferenz. Organisiert von Röbu Grimm, dem international vernetzten und sprachgewaltigen Schweizer Arbeiterführer. An dieser Stelle habe Grossvater jeweils schallend gelacht. Niemand, nicht einmal die eifrigwachsamen Ledermäntel der Bundesanwaltschaft hätten gemerkt, dass da in Zimmerwald oben vier Tage lang rote Politiker und Aktivisten aus ganz Europa unbehelligt getagt hatten. Die politische Schweiz reagierte brüskiert. Und Zimmerwald, das abgeschiedene Bauerndorf, übte sich danach fast 100 Jahre lang im Verdrängen und Vergessen dieser historischen Konferenz.
Übrigens, sagte Woodtli, den Mann mit dem stechenden Blick hinten auf seinem Wagen habe Grossvater zwei Jahre später noch einmal gesehen. Im Dezember 1917. Auf der Titelseite der Schweizer Illustrierten. Ein grosses Bild von dem Mann, diesmal mit Krawatte und hoher Stirn, darunter der Name fettgedruckt: «Lenin (Ulianoff )» Grossvater habe gesagt: «Dieses unscheinbare Manndli war also der Chef der russischen Revolution.»
Lenin wurde nicht vermisst
Woodtli schwieg und schaute einen Moment lang dem Auf und Ab des Liftes zu, strich sei-
nem Hund über das glatte falbfarbene Fell und sagte: «1971 haben die in Zimmerwald das Beau Séjour-Gästehaus, das sogenannte Leninhaus, abgerissen.» Vergangenheitsbewältigung mit dem Vorschlaghammer. Platz machen für eine Bank, Parkplätze und die Verwaltung. Seither, sagte Woodtli, fahre er – mit Grossvaters Geschichte im Kopf – regelmässig mit dem Postauto auf den Längenberg, wandere über die Wie- sen, durch den Wald, hinüber zur Sternwarte, schaue in den Himmel, denke über Krieg und Frieden und YB nach und dann den Feldweg hinunter zur Kirche und von dort zurück ins Dorf – Zimmerwald. Und auf einem dieser Spa- ziergänge sei ihm eben plötzlich dieser Hund nachgelaufen, dieser kleine bullige Kerl. Habe sich partout nicht fortjagen lassen. Und im Dorf habe auch niemand gewusst, wem er gehöre. Niemand vermisste ihn. So habe er den Mops halt wohl oder übel mitgenommen Und im Poschi, auf der Fahrt zurück nach Bern, habe ein Mädchen gefragt, ob es das Hündli wohl streicheln dürfe und wie es den heisse.
Woodtli lachte und schaute auf die kleine flache Schnauze, die an sein Bein stupste.
«Ich weiss bis heute nicht wieso, ich sagte damals einfach „Lenin“, er heisst Lenin“.
Ein Leben ohne Mops
Zeichnung Regula Sulzer
«Zeit zu gehen», sagte Woodtli. Und: «Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.» Das sei jedoch nicht etwa auf seinem Mist ge- wachsen, das habe einst Lo- riot der deutsche Humorist gesagt. Und ein Leben ohne Lenin? «Blöde Frage», sagte Woodtli knapp und kniff seine Augen zusammen. Er stand auf, hob den schläfrigen, leicht übergewichtigen Lenin sanft von der Bank und stellte ihn auf den Bo- den. «Heute ist Sonntag und am Sonntag essen wir gäng im Beau Séjour.» Die Geschichte, sagt man, wiederhole sich. Und Woodtli leise zu Lenin: «Wie wärs mit einer neuen Friedenskonferenz, heute, muss ja nicht in Zimmerwald sein?» Lenin zerrte an der Leine.
Und der Lift trug die Beiden lautlos in die Höhe.
Text: Pesche Maurer, Matte-Liftboy und langjähriger SRF-Radioreporter.
Porträt: Nicole Stadelmann Mopszeichnung: Regula Sulzer